Jedes Unternehmen hat zu viele KI-Ideen und zu wenig Klarheit. In Innovationsworkshops entstehen Dutzende Use Cases – von Predictive Maintenance bis zum intelligenten Chatbot. Doch welche davon lohnen sich wirklich? Dieser Artikel stellt eine bewährte Methodik vor, um Use Cases systematisch zu bewerten.
Das Problem mit dem Bauchgefühl
Ohne strukturierte Bewertung gewinnen oft die Use Cases mit dem lautesten Sponsor oder der schönsten Präsentation. Das führt zu Projekten, die technisch machbar sind, aber wenig Business Value liefern – oder umgekehrt: hohen Nutzen versprechen, aber an fehlenden Daten scheitern.
Eine strukturierte Priorisierung schafft Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Sie macht Entscheidungen diskutierbar – und korrigierbar.
Das Bewertungsframework
Ein bewährtes Framework bewertet Use Cases in vier Dimensionen:
- Business Value: Welchen wirtschaftlichen Nutzen bringt der Use Case?
- Umsetzungsaufwand: Wie komplex ist die technische Realisierung?
- Datenreife: Sind die benötigten Daten verfügbar und nutzbar?
- Risiko: Welche regulatorischen, ethischen oder technischen Risiken bestehen?
Business Value bewerten
Der Business Value ist mehr als Kosteneinsparung. Relevante Faktoren:
- Direkte Kosteneinsparung (z.B. Automatisierung)
- Umsatzsteigerung (z.B. bessere Conversion)
- Qualitätsverbesserung (z.B. weniger Fehler)
- Strategische Bedeutung (z.B. Wettbewerbsvorteil)
- Mitarbeiterentlastung (z.B. weniger Routinearbeit)
Versuchen Sie, den Nutzen in Zahlen auszudrücken – auch wenn es Schätzungen sind. „20% weniger Bearbeitungszeit bei 500 Vorgängen pro Monat" ist besser als „Effizienzsteigerung".
Umsetzungsaufwand einschätzen
Der Aufwand hängt von mehreren Faktoren ab:
- Technische Komplexität des Modells
- Integration in bestehende Systeme
- Verfügbarkeit von Kompetenzen im Team
- Notwendige Infrastruktur
- Change-Management-Aufwand
Datenreife prüfen
Die beste KI-Idee scheitert an fehlenden Daten. Prüfen Sie:
- Existieren die benötigten Daten überhaupt?
- In welcher Qualität liegen sie vor?
- Sind sie zugänglich (technisch und rechtlich)?
- Reicht die Datenmenge für Training und Validierung?
- Wie aufwändig ist die Datenaufbereitung?
Datenreife wird oft überschätzt. „Wir haben die Daten in SAP" heißt nicht, dass sie nutzbar sind. Planen Sie Zeit für Data Discovery ein.
Risiken identifizieren
Nicht jedes Risiko ist gleich kritisch. Differenzieren Sie:
- Regulatorische Risiken: Datenschutz, Branchenregulierung, EU AI Act
- Ethische Risiken: Fairness, Transparenz, Erklärbarkeit
- Technische Risiken: Skalierbarkeit, Performance, Wartbarkeit
- Organisatorische Risiken: Akzeptanz, Change, Verantwortlichkeiten
Das Scoring-Modell
Überführen Sie die Bewertungen in ein Scoring-Modell. Eine einfache Variante:
| Dimension | Gewichtung | Skala |
|---|---|---|
| Business Value | 40% | 1-5 (5 = sehr hoch) |
| Umsetzungsaufwand | 25% | 1-5 (5 = gering) |
| Datenreife | 20% | 1-5 (5 = sehr gut) |
| Risiko | 15% | 1-5 (5 = gering) |
Die Gewichtung können Sie an Ihre Strategie anpassen. Wenn Innovation wichtiger ist als schnelle Umsetzung, erhöhen Sie das Gewicht des Business Value.
Die Portfolio-Sicht
Das Scoring allein reicht nicht. Betrachten Sie das Gesamtportfolio:
- Quick Wins: Hoher Value, geringer Aufwand – für schnelle Erfolge
- Strategische Projekte: Hoher Value, hoher Aufwand – für langfristige Transformation
- Fill-ins: Geringer Value, geringer Aufwand – bei freien Kapazitäten
- Vermeiden: Geringer Value, hoher Aufwand – nicht priorisieren
„Ein gutes Portfolio hat 2-3 Quick Wins für frühe Erfolge und 1-2 strategische Projekte für nachhaltige Transformation."
Der Bewertungsprozess
Ein bewährter Prozess in fünf Schritten:
- Use Cases sammeln: Workshops mit Fachbereichen, IT und Management
- Vorqualifizierung: Offensichtliche No-Gos aussortieren
- Detailbewertung: Top 10-15 Use Cases im Scoring-Modell bewerten
- Portfolio-Review: Gesamtsicht prüfen, Balance sicherstellen
- Entscheidung: Finales Portfolio mit Management abstimmen
Bewerten Sie im Team – nicht alleine. Unterschiedliche Perspektiven (Business, IT, Data Science) führen zu robusteren Einschätzungen.
Fazit: Priorisierung als Steuerungsinstrument
Use-Case-Priorisierung ist kein einmaliges Event. Sie ist ein Steuerungsinstrument, das regelmäßig aktualisiert wird – wenn neue Use Cases entstehen, wenn sich Rahmenbedingungen ändern, wenn Projekte abgeschlossen sind.
Mit einer strukturierten Methodik treffen Sie bessere Entscheidungen – und können diese transparent kommunizieren.