Der EU AI Act ist beschlossen, die Übergangsfristen laufen. Für Energieversorger bedeutet das: KI-Anwendungen in Prognose, Netzoptimierung oder Kundenservice brauchen ein tragfähiges Governance-Fundament. Dieser Artikel zeigt einen pragmatischen Weg – von der Bestandsaufnahme bis zum auditierbaren Betrieb.
Warum Energieversorger jetzt handeln müssen
Die Energiebranche nutzt KI bereits intensiv: Lastprognosen, Predictive Maintenance, Fraud Detection im Smart Metering, automatisierte Kundeninteraktion. Viele dieser Anwendungen entstanden als Pilotprojekte oder Insellösungen – ohne systematische Governance.
Das wird zum Problem. Der EU AI Act schafft verbindliche Anforderungen für Hochrisiko-KI-Systeme. Und im Energiesektor fallen mehr Anwendungen in diese Kategorie, als viele erwarten:
- Netzoptimierung mit automatisierten Steuerungsentscheidungen
- Prognosemodelle, die Investitionsentscheidungen beeinflussen
- Systeme, die Kundenbewertungen oder Bonitätsprüfungen unterstützen
- Automatisierte Entscheidungen über Versorgungsunterbrechungen
Die Klassifizierung als Hochrisiko-System hängt nicht nur vom Anwendungsfall ab, sondern auch davon, wie autonom das System entscheidet und welche Auswirkungen Fehlentscheidungen haben können.
Das Governance-Fundament: Drei Säulen
Ein tragfähiges KI-Governance-Framework für Energieversorger ruht auf drei Säulen:
1. Transparenz: Wissen, was läuft
Der erste Schritt ist eine vollständige Bestandsaufnahme aller KI-Anwendungen – auch der vermeintlich „kleinen" Excel-Modelle und der in Fachabteilungen entstandenen Lösungen. Für jede Anwendung dokumentieren Sie:
- Zweck und Einsatzkontext
- Verwendete Daten und deren Quellen
- Grad der Automatisierung (Entscheidungsunterstützung vs. autonome Entscheidung)
- Betroffene Personengruppen
- Verantwortliche Fachabteilung und technischer Owner
Diese Inventarisierung ist keine einmalige Aktion. Sie brauchen einen Prozess, der neue KI-Initiativen erfasst, bevor sie in Produktion gehen.
2. Risikobewertung: Klassifizieren und priorisieren
Nicht jede KI-Anwendung braucht das gleiche Governance-Level. Ein pragmatisches Klassifizierungsmodell unterscheidet:
- Minimal Risk: Keine besonderen Anforderungen (z.B. Spam-Filter, interne Chatbots)
- Limited Risk: Transparenzpflichten (z.B. Kundenservice-Bots)
- High Risk: Umfassende Anforderungen (Dokumentation, menschliche Aufsicht, Monitoring)
- Unacceptable Risk: Verboten (im Energiesektor selten relevant)
Für die Einstufung entwickeln Sie ein Bewertungsraster mit Kriterien wie Autonomiegrad, Auswirkung auf Personen, Reversibilität von Entscheidungen und regulatorische Relevanz.
3. Steuerung: Rollen, Prozesse, Gremien
Governance braucht klare Verantwortlichkeiten. Ein bewährtes Modell für Energieversorger:
- KI-Governance-Board: Strategische Steuerung, Freigabe von Hochrisiko-Anwendungen, Eskalationsinstanz
- KI-Koordinator: Operative Umsetzung, Pflege des Inventars, Ansprechpartner für Fachabteilungen
- Fachliche Owner: Verantwortung für ihre KI-Anwendungen, Dokumentation, Monitoring
„Governance darf nicht als Bürokratie verstanden werden. Es geht darum, KI-Projekte schneller und sicherer in Produktion zu bringen – nicht langsamer."
Der Dokumentationsstandard: Was wirklich nötig ist
Für Hochrisiko-Anwendungen fordert der EU AI Act umfangreiche Dokumentation. In der Praxis hat sich ein dreistufiges Artefakt-Modell bewährt:
- AI Risk Assessment: Initiale Risikoklassifizierung und Maßnahmenplanung
- Data Sheet: Dokumentation der verwendeten Daten, ihrer Qualität und Herkunft
- Model Card: Technische Dokumentation des Modells, seiner Grenzen und Performance
Diese Artefakte sind keine einmaligen Dokumente. Sie werden aktualisiert, wenn sich Modelle, Daten oder Einsatzkontexte ändern.
Integration in bestehende Strukturen
KI-Governance existiert nicht im Vakuum. Sie muss in bestehende Governance-Strukturen integriert werden:
- Datenschutz: Abstimmung mit dem DSB, gemeinsame Prozesse für Datenschutz-Folgenabschätzungen
- IT-Sicherheit: Integration in das ISMS, Berücksichtigung von AI-spezifischen Risiken
- Compliance: Einbettung in das Compliance-Management-System
- Enterprise Architecture: KI-Anwendungen als Teil der Systemlandschaft dokumentieren
Starten Sie nicht mit einem neuen Governance-Framework auf der grünen Wiese. Erweitern Sie bestehende Prozesse – das erhöht Akzeptanz und reduziert Aufwand.
Von der Theorie zur Umsetzung
Ein realistischer Zeitplan für die Einführung von KI-Governance in einem mittelgroßen Energieversorger:
- Monat 1-2: Bestandsaufnahme und initiale Klassifizierung
- Monat 2-3: Definition von Rollen, Prozessen und Templates
- Monat 3-4: Pilotierung mit 2-3 Hochrisiko-Anwendungen
- Monat 4-6: Rollout auf alle relevanten Anwendungen
- Ab Monat 6: Regelbetrieb und kontinuierliche Verbesserung
Der Aufwand ist überschaubar – wenn Sie pragmatisch vorgehen und sich auf das Wesentliche konzentrieren.
Fazit: Governance als Enabler, nicht als Bremse
KI-Governance ist kein Selbstzweck. Sie schafft die Voraussetzungen, um KI-Anwendungen nachhaltig zu skalieren – mit kalkulierbaren Risiken und ohne böse Überraschungen bei der nächsten Prüfung.
Die Energieversorger, die jetzt ihre Hausaufgaben machen, werden in zwei Jahren einen Wettbewerbsvorteil haben: Sie können KI-Projekte schneller umsetzen, weil die Governance-Grundlagen stehen.